Portrait Younghi Pagh-Paan

Werke





 

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Dorthin, wo der Himmel endet

für Orchester mit Mezzosopran und sechs Männerstimmen (2000/2001)
  


Werkkommentar


Seit nunmehr der Hälfte meiner Lebenszeit komponiere ich Musik für Instrumente westlichen Ursprungs und für Stimmen, deren Klangaura sich abendländischer Stimmbildung verdankt. Und doch bin ich immer noch in meiner fernöstlichen Kultur tief verwurzelt. Die Spannung, die daraus entsteht, ist nur im Bewusstsein der eigenen Fremde zu ertragen.

‚Brücken' gibt es, und immer, wenn ich sie auffinde und überschreite, weiß ich doch auch, dass es keine Rückkehr gibt. In "Dorthin, wo der Himmel endet" umkreist meine Musik einmal mehr die eigene Heimatlosigkeit.

Seit langer Zeit begleiten mich altgriechische mythische Figuren, in denen manche Züge chinesischer Philosophie des Tao zu entdecken sind, so in den griechischen Tragödien die in die Fremde verstoßene umherirrende Io. Oder Ödipus, der als alter Mann in der Fremde Schutz und seine letzte Ruhe findet. Beiden mythischen Figuren begegnen wir auch noch heute in unserer nächsten Nähe. Zwischen Kosmopolitismus und Xenophobie klafft bis in unsere Gegenwart hinein ein Abgrund.

"Wenn Homer das Wort ‚barbarophon' schöpft, so geht er von der Lautmalerei aus: ‚bla-bla, bara-bara,...'"


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"Diese nannte man Barbaren, und zwar anfangs spottweise, gleichsam Grobsprachige oder Rauhsprachige."

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"So wird der Andere in die Exzentrizität, den Irrationalismus oder – einfacher aber grundsätzlicher – in das unverständliche Sprechen verwiesen: der Andere wird immer ein Barbar sein."

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"Beobachtet man die heutigen Reaktionen gegenüber den in den westlichen Ländern ansässigen Fremden, so kann man sich fragen, ob unsere Mentalitäten nicht denen der Griechen ähnlich geblieben sind: Die spontanen Reaktionen zielen nicht auf Menschenrechte für alle – einschließlich der Fremden -, sondern auf ein Ausbalancieren des Status dieser ‚Metöken' nach einem einzigen Kriterium: dem ihres wirtschaftlichen Nutzens für das Gastland. Die ökonomische Notwendigkeit ist nach wie vor ein Durchlass – oder ein Filter – zwischen Xenophobie und Kosmopolitismus."

Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst,
Edition Suhrkamp, 1990

Und das gilt, man täusche sich nicht, bis in die gegenwärtige Musikkultur hinein.

Wenn ich also für Orchester schreibe, so bleibt dieses Orchester ein mir in langsamen, fortdauernden Prozessen angeeignetes Fremdes. Dennoch könnte es mein Eigenes werden, indem ich versuche, möglichst jedem Instrument seine Autonomie zurückzugeben, wie das einer alten koreanischen Musikpraxis entspricht. Kammermusikensembles kontrastieren untereinander und bilden zusammen das farbige Ganze. Deshalb wäre es ein Irrtum, anzunehmen, ich könne die gewählten Texte sozusagen linear vertonen. Die Stimmen mit ihren unterschiedlichen Sprachen – und das gilt auch für das mir nahegekommene deutsche Idiom – werden aus den Ensembles geboren und gehen wiederum in ihnen auf.

Younghi Pagh-Paan (2001)


Besetzung


Mezzosopran

Sechs Männerstimmen
Tenor (2)
Bariton (2)
Baß (2)


3 Flöten 
2. und 3. auch Piccolo
Oboe d'amore
3 Klarinetten in B
2. auch Klarinette in A
3. auch Bassklarinette in B
3 Fagotte
3. auch Kontrafagott

1 Trompete in C
3 Posaunen (Tenor-Bass-Posaunen)

Schlagzeug (drei Spieler)

Violine I (12)
Violine II (10)
Viola (8)
Violoncello (6)
Kontrabaß (6)


Texte


Hsi – Djün, Königin der Wu – Sun
(um 105 B. C. Han Zeit)

Dorthin, wo der Himmel endet,
Haben mich meine Leute geschickt,
Gaben mich in die Fremde, dem König
Der Wu-sun zum Weibe.

Ein Zeltdach ist meine Wohnung,
Aus Filz sind die Wände.
Rohes Fleisch muss ich essen,
Stutenmilch ist mein Getränk.

Nie verlässt mich der Gedanke an die Heimat,
Das Herz blutet mir.
Ein gelber Kranich wünschte ich zu werden
Und nach Hause zu fliegen.


Nachdichtung von Günter Eich in "Aus dem Chinesischen"
Edition Suhrkamp, 1973
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

(Das Gedicht der Hsi-Djün – die grundlegende Idee dieser Komposition – wurde nicht 
vertont)


Aus Kim Chi-ha: "Die gelbe Erde": "Das Dorf" und "In einer regnerischen Nacht"
(Deutsch von Doohwan Choi und Siegfried Schaarschmidt, Edition Suhrkamp, 1983)

aus: "Das Dorf"
(Mezzosopran und Männerstimmen, in Koreanisch und Deutsch)

Alles haben sie stehen- und liegengelassen
und sind gegangen,
...
auch ihre Häuser, ... und sind davon.
Fort bis an jene Wolken in der Ferne, ach! ... 
noch weiter fort.
...

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aus: "In einer regnerischen Nacht"
(sechs Männerstimmen, in Koreanisch)

Wo bist du?
Unter dem Dach, unter dem sonst mich dämmriges
Lampenlicht empfing,
hastig schlürfende Schritte:
wo bist du jetzt?

Die vertraute Straße,
der geliebte Erdgeruch: wo in dieser Regennacht,
o immer einsames Herz,
wo erstarrst du grausam zu Stein?
...
...
So schreit,
ihr Frösche, schreit laut um meinetwillen.


wenn ich, wo tief die Wolken fliegen,
über den fernen Bergen wieder,
über die weiten Ebenen wieder ruhlos irre,
schreit mir nach wie besessen!
...
...
wo erstarrst du grausam
jetzt zu Stein,
zu Stein ?

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Io
aus: "Der gefesselte Prometheus"
(Aischylos, Tragödien, Übersetzung von Oskar Werner, Artemis und Winkler, 1996)
(Mezzosopran und Männerstimmen in klassischem Griechisch und Deutsch)

Welch Land! Welchen Volks? - trau ich dem Aug? -
...
Zeig an mir, wohin
In der Welt ich Mühselge geirrt bin!

Ah, ah, weh, weh !
...
O oh, o oh, o weh; wo führt hin mich weiter Umwege Irrn?
...
Traumbilder stets ja schwebten in der Nacht in mein
Jungfraungemach herein mir, redeten mir zu
Mit Schmeichelworten . . .
...
... ich Arme, bis dem Vater ich
Wagte zu künden der Gespenster Nachtbesuch.
O Weh, weh mir! Weh, weh!
Fort aus dem Haus sollt er, der Heimat stoßen mich,
Verjagt zu irren zu der Erde Grenzgebiet.
...
Trieb er hinaus mich, schloss vor mir das Vaterhaus
Zum Leid mir, ihm zum Leid.
...
Indes werd ich
Durch Göttergeißel Land für Land vorwärtsgejagt.
O des Leids! O des Leids!
...

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